Trauriger Grund zum Schulbesuch
Ein trauriger Grund zum Schulbesuch
„Wenn man sich damals fotografieren lassen wollte, ging man zu Bildkunst Freyer in der Sonnenallee 34 (die damals zeitbedingt anders hieß)“, erinnert sich Edith Reipert, „Der Plüschterrier war ebenso vom Fotografen zur Verfügung gestellte Dekoration wie die Schultüte, die hätten wir uns gar nicht leisten können.“ Das Foto ist nachgestellt, sie ging damals etwa in die dritte Klasse und in welches Schulgebäude sie ging, kann sie nicht genau sagen. Familien lebten auseinandergerissen und das Leben spielte sich an wechselnden Orten ab.
Nach seinem Abstellungsurlaub musste ihr Vater 1943 an die Front. Ihr Onkel holte sie, ihre Mutter und ihre Schwester danach aus dem Bombenangriffen ausgesetzten Neukölln nach Sandhorst nordwestlich von Nauen. Dort, im Amt Königshorst, wurde sie auch eingeschult. Vor den russischen Truppen flüchteten sie von dort. „Flüchtlinge, wie es damals viele gab, am Ende zu Fuß und mit Handwagen.“ Schließlich, nach einer vorübergehenden Trennung, kamen sie wieder in der Anzengruberstraße an. „Wir konnten aber nicht in unsere alte Wohnung. In der wohnte der Eigentümer, dessen Wohnung im Vorderhaus zerstört war.“ Also zogen sie im gleichen Haus zu ihrer Oma, bis das Vorderhaus instandgesetzt war.
Mit der Wiederaufnahme des Schulbesuchs begann ihre Odyssee durch die Neuköllner Schulgebäude. Hertzbergplatz, Elbestraße, Rütlistraße, Richardplatz, Zwillingestraße, Donaustraße, ihre Erinnerung lässt fast kein Schulgebäude im Nordosten Neuköllns aus, dass sie abhängig vom Wiederherstellungsstand besuchte. Und irgendwann dazwischen ging es zu Bildkunst Freyer. Oder ins Theater, als Mitglied im Schulchor unter der Leitung von Herrn Wolf konnte sie verbilligte Eintrittskarten zum Beispiel für die Oper „Carmen“ erhalten.
Das war kein Grund über Schulbesuch traurig zu sein. Aber einer fehlte noch in der Familie: ihr Vater. „In der Schule bekam jedes Kind schulfrei, wenn der Vater aus dem Krieg wieder da war. Viele Kinder hatten also schulfrei. Ich wartete! Irgendwann würde mein Vati auch wieder kommen.
Eines Tages im Sommer 1946 spielte ich vor unserem Haus Anzengruberstraße Ecke Sonnenallee und sah an der Post einen Landser kommen. Das musste mein Vati sein! Ich lief ihm entgegen, vorbei an Bäckerei Pfennig, Möbel Östmann, Feinkost Gahr und Bäckerei Dachwitz. Dann stand ich vor ihm und sah, dass es nicht mein Vati war. Ich war traurig. Der Landser sagte nur: Ich bin es nicht, aber er kommt bestimmt bald.“
Einige Wochen später erhielt sie die Nachricht, dass ihr Vater gefallen war und auf einem Heldenfriedhof in Österreich begraben worden war. Ein Österreicher hatte seine Leiche in einem Tal der Fischbacher Alpen gefunden und er wurde auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt und sein Grab gepflegt.
Ihre Hoffnung auf schulfrei erfüllte sich nicht.
Veröffentlichung: 19.04.2022
Text: Michael Morsbach
Bilder: Michael Morsbach (aktuell), Edith Reipert (historisch)